Die Geschichte des traditionellen Balsamessigs
Eine geschmacks tradition, die seit generationen überliefert wird
Im dritten Jahrtausend v.Chr., in den Zivilisationen des Nahen Ostens, in Mesopotamien, Ägypten, Palästina und später Griechland und Rom, gab es schon Essig, Traubenmost, Äpfel, Datteln und Feigen . Viel Essig wurde benutzt, nicht nur um die Speisen zu konservieren, sondern auch als Sauce für Arme und Reiche, als Arzneimittel und bis zur modernen Epoche blieb er die mächtigste Säure auf der Welt. Zuerst die ersten Handelsbeziehungen und danach die Eroberung von Großgriechenland seitens der Römer haben die Kultur von Wein und Essig auf Rom übertragen, deren Entwicklung im Bereich Handel und Kultur ein erhebliches Wachstum auch auf kulinarischer Ebene förderte. Im Laufe der römischen Herrschaft im Mittelmeerraum war das "Acetabulum", das Glasfläschchen, das Balsamessig enthielt, auf allen Tafeln präsent und die Herstellung von "besonderen" und "aromatischen" Essigen verbreitete sich immer mehr.
Die Wurzeln des Balsamessigs sind in dem Kochen des Mosts zu finden: Eine Grabmalerei in Ägypten beweist, dass diese Technik zur Herstellung des ersten im Mittelmeerraum verwendeten Süßmittels auf sehr alte Zeiten zurückgeht, und zwar mindestens auf das Jahr 1000 v. Chr. Auch der eingekochte Most war schon in der römischen Zeit sehr verbreitet und es gab sogar einen Fachterminus, um das Kochen des Mosts zu bezeichnen, d.h. "defrutare".
Der Agronom Lucius Columella beschreibt den idealen Bauernhof im 1. Jahrhundert n. Chr., wo es auch einen eigens dazu bestimmten Raum, "cella defrutaria" genannt, geben muss. Im ersten Buch der Georgica beschreibt Vergil (70-19 v. Chr.) einen Bauernhof an seinem Geburtsort Mantua, der in der römischen Zeit zur Emilia gehörte, und er schreibt: "Im Herbst sitzt die Frau am Webstuhl, singt oder kocht am Feuer den Most, den süßen Saft, indem sie den Schaum sorgfältig mit einem Laub von der im Kochkessel kochenden Flüssigkeit entfernt". Ebenfalls Lucio Columella schreibt in seinem Werk De Rustica: "Er (der eingekochte Most) wird gekühlt und in den Holzfässern abgefüllt, damit er nach einem Jahr verwendet werden kann".
Sämtliche Indizien deuten darauf hin, dass der heutige traditionelle Balsamessig aus der römischen Zeit stammt, aber man kann nicht genau wissen, was für Merkmale diese Produkte aufwiesen, da es vermutlich mehrere Rezepte mit erheblichen lokalen Unterschieden gab. Darunter hatte die Essigherstellung auf dem Gebiet Emilia ihre Besonderheiten, die sehr geschätzt waren. Die Tatsache, dass die Produkte des klassischen Altertums und der Antike einen stärkeren und unverkennbaren Geschmack hatten, lässt einem vermuten, dass die Vorgänger des heutigen traditionellen Balsamessigs sehr anders waren.
Auch im Mittelalter verwendete man Essig in hohem Maße, vor allem südlich der Alpen; Überdies verbreitete sich die Verwendung von Holzfässern, Behältern keltischer Herkunft, die in der römischen Zeit wenig verbreitet waren, weil die Amphoren aus Ton für den Seehandel viel besser geeignet waren.
Der Balsamessig, der im Mittelalter in Canossa hergestellt wurde, war der bekannteste in der Antike; Donizone, ein Benediktinermönch, der zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert gelebt hat, schrieb das erste Dokument über Balsamessig. In seinem Buch Vita Mathildis, sagt er, dass der König und spätere Kaiser Heinrich II. aus Franken 1046 in Piacenza war und dem Markgraf Bonifacio aus Canossa (dem Vater von Mathilde) einen Boten schickte, weil er den Essig, der im Schloss von Canossa hergestellt wurde, probieren wollte. In dieser Erzählung wird das Wort “balsamico” (Balsam) noch nicht benutzt, aber man weiss, dass der Essig zu dieser Zeit so wichtig war, dass er einem Kaiser geschenkt wurde und auch dass der Kaiser, obwohl er von weit herkam, den Essig kannte. Aber wir müssen uns fragen, ob es richtig ist, dass dieser Balsamessig schon unser Balsamessig war, wenn man das Zeitalter und den Ort bedenkt. Kann es sein, dass ein so edles Produkt aus einem mittelalterlichen Felsenschloss stammt? Hergestellt von groben ,kriegerischen Männern? Der Balsamessig gehört einer anderen Kultur und einer raffinierteren Umwelt an.
Die Verbreitung der höfischen und ritterlichen Kultur führte dazu, dass der Adel Köstlichkeiten mit einem saureren und komplexeren Geschmack bevorzugten, so dass die flüssigere Mostsoße "Agresto" in den mittelalterlichen Höfen mehr verwendet wurde, während der Essig in der bäuerlichen Küche stark verwurzelt blieb.
Die Ernährungsvorlieben haben sich ab dem XIV. Jahrhundert und im Laufe der Renaissance grundlegend verändert, neue, regelrechte Moden sind entstanden, die aus Italien in alle europäischen Höfe sich verbreiteten. Die Bankette der Gutsherren verwandelten sich in richtige Machtrituale, die von immer mehr Luxus und Pracht gekennzeichnet waren. Die Tische wurden mit pomphaften Geschirren und Teilen aus Edelmetallen festlich hergerichtet und auch die Speisen gehörten zum Spektakel, nicht nur wegen ihres Geschmacks, sondern auch wegen der Trickeffekten, wie z.B. lebendige Tauben, Lichteffekte und Feuerwerk. Das Geschirr selbst war Teil eines Rituals, das immer strenger wurde, wo alle Teile eine bestimmte hierarchische Bedeutung hatten. Auch die Würzmittel veränderten sich stark, weil man sehr viel experimentierte und immer mehr östliche Gewürze zur Verfügung hatte.
Die adlige Kochkunst fing während der Renaissance an, eine besondere Vorliebe für den süßsauren Geschmack zu zeigen; so begann der Erfolg des Balsamessigs, oder besser gesagt, der Balsamessige, da es mehrere Rezepte gab. Er galt als hochwertiges und teures Würzmittel, das den neuen Speisen eine gewisse Zartheit verlieh, ohne den Geschmack der Speisen mit zu viel Säure zu überwältigen. Das Gebiet rund um Modena und Reggio Emilia behauptete sich schon damals als privilegiertes Herstellungsgebiet. Der Balsamessig ist zunehmend zu einem erstklassigen Produkt am Hof der Familie Este (Herzöge von Ferrara, Modena und Reggio Emilia) geworden, das in ganz Europa bekannt war. Diesem Würzmittel wurden auch Heileigenschaften beigemessen. Die Geschichte besagt, dass die Herzogin von Ferrara Lucrezia Borgia es 1500 verwendete, um die Geburtswehen zu lindern.
Als Modena 1598 die Hauptstadt des Herzogtums der Este Familie wurde, brachten die Herzöge ihre Essige aus Ferrara mit sich, die in die lokale adlige Küche eingeführt und von den anderen Herzögen sehr geschätzt wurden. Aus der Verschmelzung dieser Traditionen entstand wahrscheinlich ein Balsamessig, dessen Eigenschaften und Herstellungstechnik bis heute überliefert worden sind. Es ist kein Zufall, dass die historischen Nachweise seither erheblich detaillierter wurden.
1597 schrieb der Vertreter des Herzogtums Giovanni Francesco Vezzali dem Generallandwirt Ercole Estense Mosti einen Brief, um Trebbiano-Trauben für die Balsamessigherstellung zu kaufen.
Das folgende Jahr schrieb der Governeur des Herzogtums Giovanni Battista Contugo der Herzogskammer, dass er die geeigneten Trauben für die Essigherstellung gefunden hatte. Die Tatsache, dass der Herzog sich für den Balsamessig sehr interessierte, bedeutet, dass er ausgereiften Balsamessig schon probiert hatte und dass Holzfässer mit Balsamessig im Herzogtum schon existierten. Der erste schriftliche Nachweis des Worts “balsamico” (Balsam) steht in einem Register des Herzogskellers von 1747; in diesem Dokument befiehlt man, den Balsamessig von einem geheimen Keller zur Camera del Prato (dem Zimmer des Rasens) zu bringen. Dieses Zimmer ist ein historischer Ort für den Balsamessig und befindet sich in dem Turm, der westlich von der Fassade des Herzogspalasts steht.
1764 kam der Großkanzler von Moscovia, der von der Zarin Katharina di Große nach den Hauptstädten Europas auf diplomatischer Reise gesandt wurde, nach Modena und bat darum, manche Essigfläschchen nach Moscow zu schicken. Als 1792 der Erzherzog von Österreich Franz II. gekrönt wurde, hielt der Herzog Ercole III. der Familie Este seinen säkularen Essig für ein würdiges Geschenk und schickte dem Kaiser nur eine kleine Flasche seines Essigs.
1803 wurden die Essigfässer des Herzogs infolge der französischen Besatzung versteigert, aber der Inhalt ging nicht verloren, weil sie vom lokalen Adel gekauft wurden, damit sie ihre Essigherstellung bereicherten. Wenn die Herzöge ihr Herzogtum zurückerhielten, wurde die Acetaia zum Teil wiederhergestellt, aber nach der Annexion zum Königsreich Italien (1862) beschlagnahmte König Viktor Emanuel die Essigfässer und sandte sie nach Moncalieri, wo der von dem ungünstigen Klima verursachte Schimmel sie zerstörte. Niemals zuvor wurden Essigfässer zum Beutestück eines siegreichen Königs.
Wie es häufig der Fall ist, verwandelte sich dieses Unglück zu einem Glück für den Balsamessig, da der Önologe von Casale Monferrato dem erfahrenen Essighersteller Francesco Agazzotti (1811-1890) fragte, wie er die von dem König beschlagnahmten Balsamessigfässer retten könnte. Die Antwort ist in einem berühmten Brief enthalten und er stellt die erste schriftliche Beschreibung des gesamten Produktionszyklus dar, die für die Erfassung der Spezifikation zur Herstellung des Traditionellen Balsamessigs aus Modena benutzt wurde.
Seit diesem Zeitpunkt wurde die Tradition des Balsamessigs von der lokalen ländlichen Aristokratie fortgesetzt, die seit jeher die eigenen Essigfässer gehabt hatte, obwohl sie weniger berühmt als diejenigen des Herzogs waren. Neben dieser Tradition gab es auch die Tradition der Bauern: Obwohl sie sich die Herstellung eines solchen hochwertigen Würzmittels nicht leisten konnten, entwickelten sie das Rezept einer Balsamsoße mittelalterlichen Ursprungs, deren Nachfolger der Balsamessig aus Modena g. g. A. heute ist.
Bis Mitte 19. Jahrhundert blieb der Balsamessig eine Besonderheit des Gebiets rund um Modena, die außerhalb dieses Gebiet mit Ausnahme einiger Verkoster fast vollkommen unbekannt war. Nach der Einheit Italiens trugen das Wachstum des Binnenhandels und die Ausfuhr italienischer Produkte nach Europa dazu bei, Produkte zu gewerblichen Zwecken herzustellen. 1861 nahm die Familie Giusti an der Ausstellung in Florenz teil; 1885 und 1891 wurde ihr Balsamessig in Wien mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Später markierten die Ausstellungen in Genua und Brüssel die Tatsache, dass die Essigherstellung aus Modena außerhalb der Provinz sehr berühmt geworden war.
Während dieser ersten Phase hatten alle Familien, die Balsamessig herstellten, ihre eigenen Besonderheiten und Rezepte, obwohl sie alle in der Tradition standen. Aus diesem Grund ist die Rede von "Balsamessige" aus Modena. Erst 1967 wurde die "Consorteria dell´Aceto Balsamico Tradizionale di Modena" (Konsortium des Traditionellen Balsamessigs aus Modena) gegründet und eine gemeinsame Herstellungsmethode festgelegt, die anhand des schon erwähnten Briefs von Francesco Agazzotti geschrieben wurde. Überdies wurden auch verschiedene Qualitätsmerkmale festgelegt, die eingehalten werden müssen, obwohl die Hersteller gemäß der Tradition über einen gewissen Spielraum verfügen, damit die Einzigartigkeit ihres Produkts gewährleistet wird. Im Zeitalter der Globalisierung hat die jahrhundertelange Geschichte des Balsamessigs die auf dem Markt herrschende Vereinheitlichung vermiede Heute gibt es nämlich ebenso viele Balsamessige wie Hersteller und jedes Essigfläschchen ist einzigartig und unnachahmlich.